Die Konflikte im Nahen Osten haben dem Ölpreis einen kräftigen Schub gegeben und ihn auf fast 80 US-Dollar je Barrel ansteigen lassen. Das bedeutet ein Plus von rund einem Drittel, nachdem er zuvor im Mai auf knapp 60 US-Dollar gefallen war. Aufgrund der hohen Korrelation und Sensitivität der großen Mineralölkonzerne zum Ölpreis, konnten ähnliche Preisbewegungen bei den Aktien dieser Konzerne beobachtet werden. Für Anleger stellt sich aber die Frage, ob ein Einstieg in diese Titel wirklich eine gute Wahl ist.
Grundsätzlich gilt ein Ölpreisniveau von über 60-65 US-Dollar als unterstützend für Investments in Ölaktien, weil die Unternehmen oberhalb dieses Preisniveaus in der Lage sind attraktive Margen zu erwirtschaften. Unter diesem Aspekt gibt es nun also umso mehr gute Gründe, in diesem Segment engagiert zu sein. Auch bieten Unternehmen aus diesem Sektor in der Regel sehr attraktive Dividendenrenditen. Darüber hinaus verfügen viele der größten Ölförderunternehmen – die sogenannten „Oil Majors“ – über starke Bilanzen und damit eine gewisse Krisenfestigkeit. Zudem bieten sich Wertsteigerungsmöglichkeiten durch die Veräußerung von Vermögenswerten, die nicht mehr dem Kerngeschäft zugerechnet werden.
Durch die Preisentwicklungen beim Öl in den letzten Tagen haben sich nun die kurzfristigen Gewinnaussichten der Ölproduzenten verbessert, da steigende Ölpreise direkt zu höheren Margen führen – vor allem im Upstream-Bereich, also der Förderung. Die diversifizierteren Öl-Mischkonzerne sind zudem in der Lage, Verlustphasen durch stabile Aktivitäten im Raffinerie- & Chemiegeschäft abzufedern. Die Großunternehmen fahren zudem ausgeklügelte Absicherungsstrategien, um sich gegen einen möglichen Preisverfall am Ölmarkt zu schützen.
Es wäre jedoch falsch, nur wegen der politischen Situation im Nahen Osten nun ein Investment in Ölaktien zu tätigen – schon allein, weil die Lage unkalkulierbar bleibt. Dies zeigt sich auch an massiven Schwankungen des Ölpreises. Seit dem zwischenzeitlichen Höchststand am 19. Juni fiel der Preis schon wieder um gut 16 Prozent, da der iranische Gegenschlag von den Marktteilnehmern als sehr moderat eingestuft wurde und sich einstweilen die Befürchtung einer Blockade der für den globalen Ölhandel bedeutenden Straße von Hormus nicht bewahrheitet hat. Auch sollten Anleger bedenken, dass Interventionen der Organisation der erdölexportierenden Länder (OPEC) den Markt jederzeit in die eine oder andere Richtung bewegen können.
Langfristig orientierte Anleger sollten zudem bedenken, dass fossile Energien auf lange Sicht an Bedeutung verlieren werden – selbst wenn diese Entwicklung alles andere als linear verläuft. Auch unter Nachhaltigkeitsaspekten scheiden die Investments für manchen Anleger ohnehin komplett aus.
Bei einem mittelfristig robusten Ölpreisniveau oberhalb der Marke von 60 US-Dollar pro Barrel sowie als Teil einer Dividendenstrategie kann ein Einstieg durchaus sinnvoll sein. Wer jedoch Wachstum und Nachhaltigkeit priorisiert, sollte vorsichtig sein und die langfristigen Risiken bedenken.
Wer sich jetzt taktisch für ein Neuengagement entscheidet, braucht in jedem Fall starke Nerven. Der Ölpreis ist hoch volatil und kann durch völlig unkontrollierbare und unvorhersehbare Faktoren von einem auf den anderen Moment die Richtung wechseln. Auch aus diesem Grunde machen unserer Meinung nach vor allem gut diversifizierte Geschäftsmodelle mit großen dahinterliegenden Ölhandelsorganisationen Sinn. Diese sollten besser gegen geopolitische und makroökonomische Herausforderungen gewappnet sein als reine Ölförderunternehmen oder gar Explorationsfirmen. Langfristig bleibt die strukturelle Verschiebung zu erneuerbaren Energien aber eine Gefahr für dieses Marktsegment.
Insgesamt haben wir daher kein gesteigertes Interesse, den Anteil an Ölaktien in unseren Kundenportfolien aufzustocken und fühlen uns mit einer ungefähr benchmarkneutralen Positionierung in unseren Aktienmandaten gut aufgestellt. Und auf ganz lange Sicht wird die Bedeutung von Ölaktien in Portfolios mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit deutlich abnehmen. Auf dem Weg dahin bleiben Diversifikation und der Fokus auf Qualitätstitel Pflicht.
Marc Decker
Co-Leiter Aktien Quintet Private Bank